Totgesagte leben länger

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Spielbericht zum BL-Spiel: 1. FFC Turbine Potsdam gegen den VfL Wolfsburg am 15.10.2022

Wann haben die Turbinefans schon mal eine Niederlage so fröhlich und euphorisch gefeiert? Wann hat sich schon mal eine Niederlage wie ein Sieg angefühlt?

Samstag, 13.00 Uhr, das „Karli“ füllte sich mit Menschen. Unerwartet vielen Menschen. 2.623 Zuschauer:innen wollten tatsächlich der Tatsache ins Auge sehen, wie das Kaninchen vor der Schlange erstarrt. Darunter schlängelten sich ca. 100 Wolfsburg-Fans, die in dieser Saison ein viertes Fest in Folge feiern wollten.

Die Tippspiel-Karten füllten sich mit 1:4 und 0:5 und noch höheren „Klatschen“-Prophezeiungen…

Ein wahrer Turbinefan kommt trotzdem, um der Mannschaft beizustehen. Auch wenn es schmerzen sollte. Ein wahrer Turbinefan übt sich in Geduld und ist mit 1 Punkt aus drei Pflichtspielen mittlerweile leiderprobt und radikal geerdet. Ein wahrer Turbinefan denkt logisch: Der Aderlass an Stammspielerinnen war am Saisonende immens. Zwei Drittel der Mannschaft sind Neuverpflichtungen – aus 17 oder 18 verschiedenen Ländern nach Potsdam gereist. Dazu ein neuer Cheftrainer, der erstmals Erfahrungen in der 1. Bundesliga sammelt.

Viel Unruhe, Ungewissheit, Unsicherheit – da werden Geduld und Gelassenheit schnell zu Fremdwörtern. Der letzte sportliche Erfolg mit der errungenen Meisterschaft liegt mittlerweile 10 Jahre zurück.

Und trotzdem füllte sich das „Karli“-Stadion. Zahlreiche Ehrengäste nahmen auf den Zuschauerrängen Platz: die Ministerin für Bildung, Jugend und Sport Britta Ernst, der Oberbürgermeister der Stadt Potsdam Mike Schubert, auch der japanische Botschafter Yanagi. Und dazu ein Geburtstagskind: Noa Selimhodzic, Spielerin mit der Nr.20, die heute ihren 19. Geburtstag feierte. Die Fans stimmten sofort ein „Happy Birthday“ an.

Anlässlich des DFB-Klimatages parkten am Stadioneingang einige exklusive E-Bikes – und Firmenvertreter der „Energieinsel“ standen zum Halbzeit-Interview bereit. Ja, das Thema „Energie“ ist derzeit in aller Munde und in Kombination mit „Krise“ wirkt es angsteinflößend. Welche Energie würden heute unsere Turbinen produzieren?

Und wie ist das mit den Erwartungen? „Wer nichts erwartet, kann auch nicht enttäuscht werden“, heißt es so schön. Doch wie wundervoll ist das Erleben, wenn sich negative Erwartungen, Missmut und Zweifel in den Gegensatz umkehren – und am Ende in einer Euphorie explodieren!

Wer heute nicht dabei war, hat etwas verpasst!

Erste Halbzeit

Während der VfL Wolfsburg bereits konzentriert auf den einzelnen Spielpositionen bereitstand, klatschten sich die Turbinen noch quirlig gegenseitig ab. Dann kehrte auch hier die Spielordnung ein.

Vier Turbinen aus der Vorsaison standen in der Startelf (Weidauer, Schwalm, Meister, Deutsch), die restlichen zwei Drittel stellten eine Aufgabe zum Namenlernen dar. Im Gegensatz dazu saßen beim VfL großartige Namen auf der Auswechselbank, u.a. Ewa Pajor, Pia-Sophie Wolter, Sveindis Jonsdottir. Und die „halbe“ Nationalmannschaft empfing im lindgrünen Trikot unsere blau-bunte Truppe.

Na dann: Anpiff ins Ungewisse…

Zweikampfduell mit Moliie Rouse (Foto: Saskia Nafe)

Ähm, fünf Minuten gespielt – und kein Gegentor. 10 Minuten, 15 Minuten – immer noch kein Gegentor. Die Turbinen zeigten von Beginn an einen Kampfgeist, der sich nicht durch hektisches Reagieren, sondern durch Souveränität im Zweikampfverhalten, im Kampf um jeden Ball und mit einem Passspiel auszeichnete, bei dem der Ball tatsächlich das Ziel erreichte.

Es dauerte fette 18 Minuten, bis endlich das eintrat, wovon die Mehrheit der Anwesenden ausgegangen war: Wolfsburgs Nr.11 Alexandra Popp hob in luftige Höhen ab um nochmal viel größer als die kleine Torwartfrau von Turbine, Jil Frehse #22, zu sein – und erzielte per Kopf den Führungstreffer zum 0:1.

Alexandra Popp (Foto: Saskia Nafe)

Das Karli kocht

Ab da begann es richtig spannend zu werden! Denn ein neues Sternchen an Potsdams Frauenfußballhimmel wurde geboren: Jil Frehse, 18 Jahre, blutjung.  Manch ein Fußballfan kannte diese Spielerin aus dem Fernsehen, als sie vor zwei Wochen beim Auswärtsspiel gegen den FC Köln auf ihrem Weg zur Toilette abgefangen wurde. Die Stammtorhüterin Vanessa Fischer hatte soeben die rote Karte gesehen, die Schiedsrichterin zeigte mit einem Doppelstrafblick auf den Elfmeterpunkt – und Jil ging nicht zur Toilette, sondern hielt beherzt diesen Strafstoß.

Turbinesternchen des Samstagnachmittags (Foto: Saskia Nafe)

Das diese grandiose Tat damals keine Eintagsfliege war, wurde in dem heutigen Spiel deutlich. Mit Wahnsinnsparaden, festen Griff, Einigeln, zielgenauem Herauslaufen und brillanter Fußabwehr ließ sie eine nach der anderen 100%-igen Torchance der Wölfinnen verblassen. In der 26. Minute gratulierte die Nationalspielerin Alex Popp sogar unserer kleinen Jil, nachdem ihr Torschuss nicht zum 0:2 geführt hatte. Eine seltene, sportliche sehr respektvolle Geste.

Auch Jule Brand durfte diese Erfahrung in der direkten Begegnung mit Potsdams junger Torhüterin in der 42. Minute sammeln. Schon wieder eine Glanzparade! Das Turbinevolk auf den Rängen tobte auf den Rängen und skandierte „Ji -il Freeeh-se“. Und das nicht nur einmal. Die Partie kam in Gang, die Stimmung bebte, Hexenkessel.

Ein Turbinefan meinte trocken in Richtung Wolfsburger Trainerbank: „Tja, wir haben eine Frehse, ihr nur eine Egge.“

Nicht zu vergessen: Ein Freistoß von Tori Schwalm in der 39. Minute sah aus wie ein Ausgleichstreffer und der erste Ton der Tormusik erschallte bereits aus den Stadionlautsprechern, bevor auch der oder die Letzte begriffen hatte, dass nur das Außennetz wackelte.

Zweite Halbzeit

Nicht nur die Spielerinnen benötigten eine Halbzeitpause, auch deren Fans. „Schreidrops“ wurden gegen heiser gewordene Stimmen herumgereicht und andere entspannende Maßnahmen eingeleitet. Wie würden die Turbinen aus der Kabine kommen? Hatten sie noch ausreichend Kraft und Konzentration, um mit ihrem grandiosen spielerischen Einsatz nahtlos anknüpfen zu können?

Ja.

Hatten sie.

Nicht geschubst (Foto: Saskia Nafe)

Die Mannschaftsleistung überzeugte auch in der zweiten Halbzeit. Wolfsburg schoss aufs Tor, Jil hielt. Wolfsburg schoss aufs leere Tor, doch Jils Geist hielt. Wolfsburgs Starspielerin Ewa Pajor, in der zweiten Halbzeit frisch eingewechselt (ja, nun brauchte sie man doch), benötigte drei glasklare Anläufe, um eeeendlich – in der 94. Minute – das mühsame 0:2 zu erzielen.

Und wie schade, dass Kyokawas knallharter Distanzschuss knapp das rechte obere Eck verfehlte. Verdient wäre ein Unentschieden gewesen. Ein Lohn für die starke Mannschaftsleistung der Turbinen und deren Torwartsternchen Jil Frehse, die ohne Wenn und Aber am Ende zum „Player oft the matsch“ gekürt wurde. Ihre heutige Leistung erinnerte an das CL-Finale in Getafe, als die „coole Sau“ Anna Sarholz im blutjungen Alter von 17 Jahren einen Elfmeter nach dem anderen eiskalt wegfischte.

Player of the match_Jil Frehse:-) überreicht von der Ministerin Britta Ernst (2 v.r.) (Foto: Saskia Nafe)

Abpiff

Der VfL Wolfsburg hatte den 1. FFC Turbine Potsdam unterschätzt. Genauso wie viele Potsdamer Anhänger. Totgesagte leben länger.

Turbine hat heute leistungsmäßig einen gewaltigen Schritt nach vorn gemacht. Die mentale Einstellung der Mannschaft überzeugte und begeisterte. Selbstbewusst boten sie dem Gegner Paroli und zeigten dabei eine große Spielfreude und auch technisches Können. Sie wollten nicht nur, sie konnten es sogar:-)

Bedenkt man, dass die letzten drei Begegnungen mit Wolfsburg 0:3 oder gar 0:4 verloren gingen, gilt der neu zusammengewürfelten Mann und dem Trainerteam ein kollossaler Respekt.

Ein Auswärtssieg gegen Meppen am kommenden Freitag wäre eine logische Folge. Drücken wir unseren Mädels die Daumen!

Danach

Eine ungewöhnliche Beobachtung war, wie viele Menschen noch lange nach dem Abpfiff im Stadion blieben, sich miteinander austauschten und selig auf den Rasen blickten. Vermutlich auch in der Hoffnung, von der einen oder anderen Spielerin beider Mannschaften ein Autogramm zu ergattern.

Text: Susanne Lepke

Fotos: Saskia Nafe, Beatrice Martens

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